Sexuelle Gewalt – Die Macht der Bewegtbilder oder der bewegenden Bilder

Sind verschwommenen Aufnahmen von Überwachungskameras oder Handy-Videos heute die Basis der gesellschaftlichen Meinungsbildung? Warum vertrauen Menschen heute mehr einem Video als einer schriftlichen Aussage? Dabei gibt es Menschen, die sexuelle Gewalt erleben mussten und die ihre eigenen Bilder und Worte nutzen, um zu erzählen. Aber sie tun es leise, anonym, authenisch und nachvollziehbar, doch niemand beachtet sie.

Das Youtube-Video Silvester 2016 am Kölner Dom von Baris Olsun wurde mittlerweile über eine Millionen Mal angeklickt. Wie viele sich das Video bis zum Ende und vielleicht noch den zweiten Teil angeschaut haben ist fraglich, denn im Video passiert rein gar nichts. Viele Menschen, Raketen, bei Minute 2:04 ein grauhaariger Mann mit Krawatte. Unzählige filmende Handys und Jubelschreie bei jeder abgefeuerten Rakete. Das Video wurde professionell von Baris Olsun im Hochformat aufgenommen, was die Sichtung der Geschehnisse deutlich erschwert. Und trotzdem ist es das Maß der Dinge geworden zusammen mit unzählige weiteren dieser verwackelten Handy-Videos. Augenzeugenberichte und Kurzreportagen verstärkt durch Kurzausschnitte jener Videos füllen die Massenmedien, lassen die Stimmung hochkochen und erzeugen eine Vorstellung, die jeden beeinflusst. Daher das neueste Thema der Politik: Sexuelle Gewalt in Deutschland, als hätte es sie nie gegeben. Plötzlich ist man der Meinung, dass doch etwas geändert werden muss. Die sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht sollen nun dafür sorgen, dass sexuelle Gewalt in Deutschland härter und gezielter bestraft wird? Oder bewegen wir uns doch nur im Bereich Asylpolitik? Es heißt ja aktuell in vielen Headlines bekannter Medien: „Vergewaltigung durch Asylanten.“ Das wäre schade, denn wer die Tat begangen hat und woher er ursprünglich kommt ist absolut irrelevant. Es geht um sexuelle Gewalt allgemein und der deutsche Rechtsstaat trumpft hier nicht gerade mit Härte gegenüber dem Täter auf, ganz gleich welcher Herkunft.

Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe Frauen gegen Gewalt e.V. hat 2014 eine Studie vorgelegt, bei der 107 Fälle schwerer sexueller Übergriffe untersucht und das Verfahren eingestellt wurde. In allen Fällen geschah die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers. Aber: Ein Nein gegenüber dem Täter reicht mit Blick auf das deutsche Recht nicht für eine Verurteilung aus. Frauen, die aus Angst sich nicht wehren, können nicht auf eine Verurteilung des Täters setzen. Gerechtigkeit und Genugtuung bleiben für das Opfer unerreicht.
Für Frauen und leider auch Kinder geht es aber nicht nur um den Moment der Tat, sondern auch um die Zeit danach und die damit verbundenen Leiden und seelischen Schäden. Für viele endet diese Zeit nie und die Tat bleibt in Erinnerung, stört den Alltag und den Verlauf einer möglichen glücklichen Zukunft.

Das Sehen, statt das Lesen wurde zur Grundlage unserer Überzeugung

Unsere Vorstellung von Wahrheit und tatsächlichem Vorhandensein wird heute mehr denn je von (Bewegt-)Bildern beeinflusst. Wir bilden unsere Meinung überwiegend auf Basis von Bildern, seien es Fotos oder Videos. Der US-amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman schreibt in seinem 1985 erschienenen Buch Wir amüsieren uns zu Tode: „Das Sehen, statt das Lesen wurde zur Grundlage unserer Überzeugung“ und die Meta-Medien Fernsehen und Internet nutzen dies heutzutage maximal aus.

„Video zeigt das Chaos in der Kölner Silvesternacht“ heißt es bei focus.de und es folgt der Vermerk: „Haben Sie Videomaterial? Sind Sie selbst betroffen? Kennen Sie jemanden, der betroffen war? Schicken Sie uns Ihre Schilderungen, Fotos und Videos.“ Die Macht der bewegten Bilder unterstützt durch bewusst übertriebene Kommentare der Journalisten und ausgeschmückte Berichterstattungen haben innerhalb kürzester Zeit zu einem Aufschreien in Politik und Gesellschaft gesorgt. Die Macht der (Handy)-Videos ist unübersehbar. Aber muss denn alles gefilmt werden, damit wir Dinge glauben oder auf sie aufmerksam werden? Und muss es erst zu einem Extremfall kommen, damit die Politik etwas schnell und zielführend ändert? Es gab und gibt genug Menschen in Deutschland, die sexuelle Gewalt erfahren mussten bzw. müssen und die ebenso Bilder und Worte nutzen, um von ihrem Erlebten, ihren daraus resultierenden Leiden und ihrem Umgang mit diesen zu erzählen. Aber sie tun es im Hintergrund anonym, auf eine stille Art und Weise und sie nutzen neben geschriebenen Worten das Medium Bild in Form von kreativen Arbeiten, die ihre Anonymität bewahren. Es geht ihnen nicht um Aufmerksamkeit, sondern um Aussprache. Vielleicht weil sie nie erst genommen wurden oder weil der Rechtsstaat sie enttäuscht hat. Die Masse und die Medien übersehen sie und nur wenige werden auf sie aufmerksam.

Die zwanzigjährige Vanessa gehört zu diesen Menschen und beschreibt mit Worten und Bildern in ihrem Blog Hopefull Wounds https://hopefulwounds.wordpress.com/ ihre Erfahrung und ihren Alltag mit den psychischen Nachwirkungen der am eigenen Leib erfahrenen sexuellen Gewalt. Gegen ihren Peiniger lagen bereits vier Anzeigen wegen gleicher Delikte vor und auch im Falle von Vanessa wurde die Anklage fallengelassen – aus Mangel an Beweisen. Wo waren hier Gesellschaft und Politik? Niemand hat aufgeschrien. Und Vanessa ist eine von vielen. Die Zahl der Opfer von angezeigten Sexualdelikten lag 2014 bei fast 8000 Fällen und diese statistische Zahl zieht sich fast unverändert von 2002 bis 2014. Daraus ergaben sich nur knapp über 1000 Anklagen und etwas weniger Verurteilungen. Die Frage ist aber, ob ein Fall wie der von Vanessa dazugerechnet wird. Und was ist mit den vielen Fällen, die nicht angezeigt wurden? Ich persönlich kenne drei Frauen, die sexuelle Gewalt am eigenen Leib erleben mussten und aus Angst oder Scham nicht zur Polizei gegangen sind. Nur eine dieser Taten wurde durch einen Ausländer verübt und zwar von einem Italiener – weil die junge Dame sich zum Zeitpunkt in Italien befand.

Würde es von Vanessas erlebter Tat ein verschwommenes Video geben, das zudem mit einem kurzen Ausschnitt in den bekannten Medien Präsenz zeigt, würde unsere Gesellschaft aufschreien, wie sie es jetzt tut. Alle würden hinter Vanessa stehen. Gesellschaft und Politik. Das Geschehen in der Silvester-Nacht zeigt, dass das bewegte Bild und der Ton eines miserablen Handy-Videos zusammen mit teils bedingt nachvollziehbaren und übertriebenen Meldungen der Medien den Menschen ausreichen, um in kürzester Zeit eine Meinung zu bilden und die Politik zum Handeln zu bewegen. Doch ist diese Meinung immer angebracht und wie viele Menschen hinterfragen Aussagen und Meldungen, die durch Massenmedien an sie herangetragen werden? Oder reichen gar die vielen Bewegtbilder aus?

„Wenn’s mir schlecht geht, dann male ich“

Vanessa nutzt nicht nur geschriebene Worte, sondern auch eigene Bilder, um ihre Situation darzustellen und ihren Umgang mit den Folgen der Tat. Aber es sind keine Videos und auch keine mit ihrer Person erkennbaren Fotos. „Wenn’s mir schlecht geht, dann male ich“ schreibt sie. Kreativ visuell zu arbeiten heißt nicht zwingend etwas zu erschaffen, sondern kann Emotionen, Gedanken oder Träume auf individuelle Weise sichtbar zu machen. Man lässt der Bewegung, den Gedanken und Gefühlen freien Lauf und man selbst entscheidet wie viel man von sich preisgibt. Flüssige Farben, sei es Aquarell, Acryl oder Tempera erlauben ein emotionslösendes Arbeiten und Ausleben. Nicht jeder kann den unbewusst eingebundenen persönlichen Code, den ein Bild enthält, entziffern. Und ohne das Lesen von Vanessas Worten in ihrem Blog versteht man den Code nicht. Man muss sich Zeit nehmen und sich einlassen auf eine Art der Kommunikation, die Menschen schon lange kennen und nutzen, die sich aber heute durch die Informationsflut der digitalen Welt und eine damit verbundene Übersättigung verändert hat.

Zwei Bilder ihrer Arbeiten fielen mir sofort auf und beziehen ein, was so elementar ist für eine visuelle Sprache und die bildende Kunst. Die Werke Seelenmord und Hand Art strahlen Emotionen, Erfahrenes und Erlebtes aus dem Leben einer leidenden Person aus.


Beide Bilder in Kombination fassen das zusammen, was Vanessa heute erlebt und damals erlebt hat. Obwohl ich ihr nie begegnet bin, reichen mir ihre Worte und diese zwei Bilder aus, um in etwa zu verstehen, was in ihr vorgeht.

Die vielleicht aus dem Unterbewussten entfachten Emotionen sind in eine visuelle Sprache übergegangen und lassen den Betrachter fühlen, was in manchen Momenten durch den Kopf des Erschaffers geht. Verbunden mit ihrer Geschichte und ihren Worten in den Beiträgen erhält man ein Bild von einer Seele. Einer Seele, die nur durch die Kombination der Worte und der Bilder sichtbar und nachvollziehbar wird. Zum Nachdenken regen die Bilder an und das gerade, weil Vanessas Geschichte dahinter steckt.

Vanessa ist keine berühmte Künstlerin. Sie steht nicht im Mittelpunkt der Kunstwelt und auch nicht der Massenmedien. Sie ist anonym und eine von vielen, hat aber mit ihren Worten und ihren Bilder so viel zu sagen. Viel mehr als das, was verwackelte Handy-Videos und übersättigte Medienberichte vermitteln. Bilder, insbesondere Bewegtbilder wie besagte Videos beeinflussen unsere Meinung heute mehr denn je. Die Frage ist aber, ob wir genau aus diesem Grund Dinge übersehen oder bewusst nicht wahrnehmen und ob unsere Meinung genau aufgrund dieser Bilder sich negativ entwickelt und zu Vorurteilen führt. Wir sollten Menschen wie Vanessa mehr zuhören – lesen, was sie zu sagen haben und sehen, was wir bisher übersehen haben. Vannesas Bilder erfordern ein Auseinandersetzen mit der Thematik und ihren Folgen. Es geht nicht um Schönheit, Gefallen oder Technik. Es geht um die dahinter verankerte Botschaft an die Außenwelt. Um das zu verstehen muss man sich Zeit nehmen und gerade aus diesem Grund ist Kunst, ganz gleich welcher Art, eine gute Kommunikationsform, denn sie erfordert vom Betrachter ein Minimum an Zeitaufwand der Auseinandersetzung mit dem Werk. Zeit, die wir uns heute zu wenig nehmen, sodass sich voreingenommene und damit oft falsche Meinungen und Vorstellungen entwickeln.

Menschen wie Vanessa suchen etwas Ausgleich und Aussprache, indem sie in einem Blog ihre Sicht der Dinge darstellen und erzählen, aber auch um anderen, die in eine ähnliche Situation geraten, vielleicht helfen zu können. Damit leisten sie einen weitaus wichtigeren Beitrag als so manche Medienanstalt. Vanessa stellt die Dinge dar, wie sie sind und nicht wie sie sein müssen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie ist auf ihre Art authentisch mit ihren eigenen Worten und ihren eigenen visuellen Arbeiten, für die sie sich bewusst Zeit nimmt. Auch wir sollten uns mehr Zeit nehmen, um Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu hinterfragen, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen und eine eigene Meinung zu bilden. Denn das ist es, was uns Menschen doch schlussendlich ausmacht. Die eigene Meinung.

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