Venedig Markusplatz Touristenmassen

Venedig oder einfach nur die „kaputteste“ Stadt der Welt?

Der Markusplatz in Venedig. Der „schönste Festsaal Europas“, wie Napoleon ihn nannte, wird von Touristen, Fotografen und Tauben bevölkert. Die Tauben darf man nicht füttern, damit es nicht mehr werden. Dass viel zu viele Menschen auf dem Platz herumirren, scheint kein Problem zu sein. Oder etwa doch?

Als ich das Foto vom Markusplatz (italienisch Piazza San Marco) nach dem Gardasee-Urlaub auf dem hellen 27-Zoll Bildschirm betrachtete, war ich auf der einen Seite von der durch den manuellen Modus der Kamera erzeugten Atmosphäre und Spannung beeindruckt (es war eher ein Zufallsschuss), auf der anderen Seite wurde ich nachdenklich. Dieses eine Foto schaffte es, den Eindruck zu vermitteln, den ich in den Stunden meines Aufenthalts von der Stadt erhalten hatte. Lärm, Hitze, Gestank, Menschenmassen und Selfiesticks. Ein Bildfehler hat das unten sichtbare Foto erzeugt, bei dem die Menschen hervorgehoben werden und einen Kontrast bilden.

Markus Platz Venedig

Ich war eigentlich nur aus einem Grund nach Venedig gekommen: Ich wollte das Guggenheim-Museum besuchen, in dem die Sammlung von Peggy Guggenheim mit Werken von Künstlern wie Jackson Pollock, Francis Bacon oder Pablo Picasso zu sehen ist. Als Jackson Pollock „Fan“ wollte ich seine ersten abstrakten Arbeiten sehen und nur aus diesem Grund hatte ich die Menschenmassen in Kauf genommen. Dieses Ziel habe ich auch erreicht, aber schon auf dem Weg zu diesem besonderen Ort wurde mir bewusst, wie kaputt Venedig ist ist und dass wir es sind, die die Stadt zerstören. Mit kaputt meine ich nicht die alters- und witterungsbedingten Schäden an den Häuserwänden, die gerade den Scharm der Gebäude ausmachen. Mit kaputt meine ich die Touristenmassen, die sich durch die Gassen zwängen und die gefühlt an jeder Ecke mit dem Selfiestick einen weiteren Beweis dafür erzeugen, dass sie in der berühmten Stadt waren. Tritt man aus dem Bahnhof der kleinen Stadt, die übrigens aktuell nur knapp 55.000 Einwohner hat, weil alle fliehen, dafür aber mehr als 30 Millionen Besucher pro Jahr, werden einem gefühlt pausenlos und an jeder Ecke Selfiesticks angeboten. Das Werkzeug, mit dem die Beweisfotos erstellt werden können, um über die sozialen Medien den Erfolg des „Ich war in Venedig-Projekts“ zu übermitteln.

Dazu muss man sagen, dass die zwei schönen jungen Damen, die ich in Aktion abgelichtet habe, wirklich glücklich und entspannt wirken. Sie gehören scheinbar zu den Besuchern, die sich wirklich an der Stadt und ihren kulturellen Werten erfreuen.

Vor einigen Tag sah ich einen Bericht auf Arte, in dem die Situation der Stadt noch extremer dargestellt wurde. Nicht die Menschenmassen sind das große Problem – es sind die hochhausgroßen Kreuzfahrtschiffe, die direkt an der Stadt vorbeifahren, um zum Kreuzfahrtterminal zu gelangen und durch ihre Wellen, die Lagunenstadt und ihre Fundamente enorm unterspülen. 80.000 Individual- und Kreuzfahrttouristen quetschen sich täglich durch Venedig.

Aber irgendwie bin ich ja auch einer der Übeltäter. Für einen Tag nach Venedig wegen ein Paar Bildern? Aber: Wie groß ist der Anteil der Menschen, die tatsächlich aus kulturorientiertem Interesse Venedig besuchen? Ich war aus kulturorientiertem Interesse da und wollte in der Näher der Bilder von Jackson Pollock sein. Der Ausflug der beiden Damen und mein Ausflug zusammen mit meiner Frau wurde von der Masse an Touristen erstickt. Jegliche Romantik wurde durch Lärm, Dreck, Ignoranz und Gehetze erstickt. Das Guggenheim-Museum könnte ein Zufluchtsortsein – denkt man. Schließlich ist es nur Kunst. Aber! Wir haben die Rechnung ohne Picasso gemacht.

Im Guggenheim-Museum wandle ich aufgeregt durch die Räume. Miró, Max Ernst, Paul Klee – und dann: Der Raum mit den Werken von Jackson Pollock. Mein Herz fängt an zu schlagen. Ich muss mich auf eins der Sofas setzen und betrachte „The Moon Woman“ und „Enchanted Forest“. Großartig! Ich versuche den Moment zu genießen und stelle mir vor, wie Pollock die flüssige Farbe per „Dripping“ und unter Einsatz seines Körpers auf die auf dem Boden liegende Leinwand aufträgt. Ich verfolge die Spuren und Strukturen, suche Flächen, wo sich die Farbe gesammelt hat und verweile mit dem Auge auf seiner Signatur, die er mit dem Pinsel geschrieben hat.

Jackson Pollock Signatur

Plötzlich klingelt ein Handy und ein eindeutig gelangweilter Mann fängt an laut zu telefonieren. Daneben eine junge Dame, die auf ihrem Handy spielt und parallel Nachrichten schreibt. Ein ältere US-Amerikaner, wie unschwer zu überhören war, sagt zu einem jungen Museums-Guide, der ihn im Museum herumführt: „I know that stuff. We did this in kindergarten.“ Dass Jackson Pollock der lange ersehnte amerikanische abstrakte Expressionist war und endlich ein Pendant zu Picasso, Kandinsky oder Braque, scheint der Herr zu ignorieren. Der junge Guide hätte es ihm gerne noch mitgeteilt.

Warum seid ihr alle hier? Wenn es euch nicht wirklich interessiert, dann geht in eine der gefühlt 100.000 Pizzerien oder geht an den Strand. Ach ja – es sind die Picassos und die Kandinskys, die euch magisch anziehen. Die kennt man ja und die muss man mal gesehen haben (30 Sekunden reichen aus für den Besucher). Aus dem Grund lauft ihr auch ignorant an Francis Bacons „Study for Chimpanzee“ vorbei, das einsam in der Ecke hängt. Ein junger Mann mit Adidas-Shirt und Hose plus geschulterter Hüfttasche im Louis Vuitton-Look und Adiletten läuft genervt und gelangweilt mehrmals an mir vorbei. Flucht in die aktuelle Ausstellung von Mark Tobey. Endlich Stille und Leere. Er ist kein Magnet für die Masse, sodass man sich in Ruhe mit den Arbeiten beschäftigen kann. Plötzlich wieder Mister Adidas-Adiletten-Louis-Vuitton. „Was willst du Bumsbirne hier?“ denke ich mir sofort. Und sofort folgt die Auflösung des Rätsels: Es ist seine Freundin (oder Frau), die ihn ins Museum geschleppt hat. Warum hat sie ihn nicht in der Pizzaria abgesetzt? Schon eine Bumsbirne weniger an diesem besonderen Ort, für den ich diese Strapazen auf mich genommen habe.

Aber, ich bin nicht besser als Mister Adidas-Adiletten-Louis-Vuitton. Nur für einen Tag sind wir nach Venedig gekommen und genau wie alle anderen Touristen drängeln wir uns durch die Gassen, um nach unserem Museumsbesuch dann doch noch den Markusplatz zu besuchen. Diesen einen Ort, der wie die IKEA-Kleinkramhalle unsere Nerven auf die Probe stellt. Und erst das eine Foto macht mir deutlich, wie schlimm wir Menschen uns gegenüber Kultur verhalten. Damit Orte wie Venedig weiterbestehen, könnte schon ein kleines Nachdenken von unserer Seite helfen. Muss ich wirklich da hin, und muss es im Sommer sein? Und macht es nicht Sinn, sich zwei drei Tage Zeit zu nehmen, um den kulturellen Wert der Stadt zu erleben? Mehr Ruhe, weniger Müll und Achtsamkeit würden der Stadt schon helfen.

Sexuelle Gewalt – Die Macht der Bewegtbilder oder der bewegenden Bilder

Sind verschwommenen Aufnahmen von Überwachungskameras oder Handy-Videos heute die Basis der gesellschaftlichen Meinungsbildung? Warum vertrauen Menschen heute mehr einem Video als einer schriftlichen Aussage? Dabei gibt es Menschen, die sexuelle Gewalt erleben mussten und die ihre eigenen Bilder und Worte nutzen, um zu erzählen. Aber sie tun es leise, anonym, authenisch und nachvollziehbar, doch niemand beachtet sie.

Das Youtube-Video Silvester 2016 am Kölner Dom von Baris Olsun wurde mittlerweile über eine Millionen Mal angeklickt. Wie viele sich das Video bis zum Ende und vielleicht noch den zweiten Teil angeschaut haben ist fraglich, denn im Video passiert rein gar nichts. Viele Menschen, Raketen, bei Minute 2:04 ein grauhaariger Mann mit Krawatte. Unzählige filmende Handys und Jubelschreie bei jeder abgefeuerten Rakete. Das Video wurde professionell von Baris Olsun im Hochformat aufgenommen, was die Sichtung der Geschehnisse deutlich erschwert. Und trotzdem ist es das Maß der Dinge geworden zusammen mit unzählige weiteren dieser verwackelten Handy-Videos. Augenzeugenberichte und Kurzreportagen verstärkt durch Kurzausschnitte jener Videos füllen die Massenmedien, lassen die Stimmung hochkochen und erzeugen eine Vorstellung, die jeden beeinflusst. Daher das neueste Thema der Politik: Sexuelle Gewalt in Deutschland, als hätte es sie nie gegeben. Plötzlich ist man der Meinung, dass doch etwas geändert werden muss. Die sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht sollen nun dafür sorgen, dass sexuelle Gewalt in Deutschland härter und gezielter bestraft wird? Oder bewegen wir uns doch nur im Bereich Asylpolitik? Es heißt ja aktuell in vielen Headlines bekannter Medien: „Vergewaltigung durch Asylanten.“ Das wäre schade, denn wer die Tat begangen hat und woher er ursprünglich kommt ist absolut irrelevant. Es geht um sexuelle Gewalt allgemein und der deutsche Rechtsstaat trumpft hier nicht gerade mit Härte gegenüber dem Täter auf, ganz gleich welcher Herkunft.

Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe Frauen gegen Gewalt e.V. hat 2014 eine Studie vorgelegt, bei der 107 Fälle schwerer sexueller Übergriffe untersucht und das Verfahren eingestellt wurde. In allen Fällen geschah die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers. Aber: Ein Nein gegenüber dem Täter reicht mit Blick auf das deutsche Recht nicht für eine Verurteilung aus. Frauen, die aus Angst sich nicht wehren, können nicht auf eine Verurteilung des Täters setzen. Gerechtigkeit und Genugtuung bleiben für das Opfer unerreicht.
Für Frauen und leider auch Kinder geht es aber nicht nur um den Moment der Tat, sondern auch um die Zeit danach und die damit verbundenen Leiden und seelischen Schäden. Für viele endet diese Zeit nie und die Tat bleibt in Erinnerung, stört den Alltag und den Verlauf einer möglichen glücklichen Zukunft.

Das Sehen, statt das Lesen wurde zur Grundlage unserer Überzeugung

Unsere Vorstellung von Wahrheit und tatsächlichem Vorhandensein wird heute mehr denn je von (Bewegt-)Bildern beeinflusst. Wir bilden unsere Meinung überwiegend auf Basis von Bildern, seien es Fotos oder Videos. Der US-amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman schreibt in seinem 1985 erschienenen Buch Wir amüsieren uns zu Tode: „Das Sehen, statt das Lesen wurde zur Grundlage unserer Überzeugung“ und die Meta-Medien Fernsehen und Internet nutzen dies heutzutage maximal aus.

„Video zeigt das Chaos in der Kölner Silvesternacht“ heißt es bei focus.de und es folgt der Vermerk: „Haben Sie Videomaterial? Sind Sie selbst betroffen? Kennen Sie jemanden, der betroffen war? Schicken Sie uns Ihre Schilderungen, Fotos und Videos.“ Die Macht der bewegten Bilder unterstützt durch bewusst übertriebene Kommentare der Journalisten und ausgeschmückte Berichterstattungen haben innerhalb kürzester Zeit zu einem Aufschreien in Politik und Gesellschaft gesorgt. Die Macht der (Handy)-Videos ist unübersehbar. Aber muss denn alles gefilmt werden, damit wir Dinge glauben oder auf sie aufmerksam werden? Und muss es erst zu einem Extremfall kommen, damit die Politik etwas schnell und zielführend ändert? Es gab und gibt genug Menschen in Deutschland, die sexuelle Gewalt erfahren mussten bzw. müssen und die ebenso Bilder und Worte nutzen, um von ihrem Erlebten, ihren daraus resultierenden Leiden und ihrem Umgang mit diesen zu erzählen. Aber sie tun es im Hintergrund anonym, auf eine stille Art und Weise und sie nutzen neben geschriebenen Worten das Medium Bild in Form von kreativen Arbeiten, die ihre Anonymität bewahren. Es geht ihnen nicht um Aufmerksamkeit, sondern um Aussprache. Vielleicht weil sie nie erst genommen wurden oder weil der Rechtsstaat sie enttäuscht hat. Die Masse und die Medien übersehen sie und nur wenige werden auf sie aufmerksam.

Die zwanzigjährige Vanessa gehört zu diesen Menschen und beschreibt mit Worten und Bildern in ihrem Blog Hopefull Wounds https://hopefulwounds.wordpress.com/ ihre Erfahrung und ihren Alltag mit den psychischen Nachwirkungen der am eigenen Leib erfahrenen sexuellen Gewalt. Gegen ihren Peiniger lagen bereits vier Anzeigen wegen gleicher Delikte vor und auch im Falle von Vanessa wurde die Anklage fallengelassen – aus Mangel an Beweisen. Wo waren hier Gesellschaft und Politik? Niemand hat aufgeschrien. Und Vanessa ist eine von vielen. Die Zahl der Opfer von angezeigten Sexualdelikten lag 2014 bei fast 8000 Fällen und diese statistische Zahl zieht sich fast unverändert von 2002 bis 2014. Daraus ergaben sich nur knapp über 1000 Anklagen und etwas weniger Verurteilungen. Die Frage ist aber, ob ein Fall wie der von Vanessa dazugerechnet wird. Und was ist mit den vielen Fällen, die nicht angezeigt wurden? Ich persönlich kenne drei Frauen, die sexuelle Gewalt am eigenen Leib erleben mussten und aus Angst oder Scham nicht zur Polizei gegangen sind. Nur eine dieser Taten wurde durch einen Ausländer verübt und zwar von einem Italiener – weil die junge Dame sich zum Zeitpunkt in Italien befand.

Würde es von Vanessas erlebter Tat ein verschwommenes Video geben, das zudem mit einem kurzen Ausschnitt in den bekannten Medien Präsenz zeigt, würde unsere Gesellschaft aufschreien, wie sie es jetzt tut. Alle würden hinter Vanessa stehen. Gesellschaft und Politik. Das Geschehen in der Silvester-Nacht zeigt, dass das bewegte Bild und der Ton eines miserablen Handy-Videos zusammen mit teils bedingt nachvollziehbaren und übertriebenen Meldungen der Medien den Menschen ausreichen, um in kürzester Zeit eine Meinung zu bilden und die Politik zum Handeln zu bewegen. Doch ist diese Meinung immer angebracht und wie viele Menschen hinterfragen Aussagen und Meldungen, die durch Massenmedien an sie herangetragen werden? Oder reichen gar die vielen Bewegtbilder aus?

„Wenn’s mir schlecht geht, dann male ich“

Vanessa nutzt nicht nur geschriebene Worte, sondern auch eigene Bilder, um ihre Situation darzustellen und ihren Umgang mit den Folgen der Tat. Aber es sind keine Videos und auch keine mit ihrer Person erkennbaren Fotos. „Wenn’s mir schlecht geht, dann male ich“ schreibt sie. Kreativ visuell zu arbeiten heißt nicht zwingend etwas zu erschaffen, sondern kann Emotionen, Gedanken oder Träume auf individuelle Weise sichtbar zu machen. Man lässt der Bewegung, den Gedanken und Gefühlen freien Lauf und man selbst entscheidet wie viel man von sich preisgibt. Flüssige Farben, sei es Aquarell, Acryl oder Tempera erlauben ein emotionslösendes Arbeiten und Ausleben. Nicht jeder kann den unbewusst eingebundenen persönlichen Code, den ein Bild enthält, entziffern. Und ohne das Lesen von Vanessas Worten in ihrem Blog versteht man den Code nicht. Man muss sich Zeit nehmen und sich einlassen auf eine Art der Kommunikation, die Menschen schon lange kennen und nutzen, die sich aber heute durch die Informationsflut der digitalen Welt und eine damit verbundene Übersättigung verändert hat.

Zwei Bilder ihrer Arbeiten fielen mir sofort auf und beziehen ein, was so elementar ist für eine visuelle Sprache und die bildende Kunst. Die Werke Seelenmord und Hand Art strahlen Emotionen, Erfahrenes und Erlebtes aus dem Leben einer leidenden Person aus.


Beide Bilder in Kombination fassen das zusammen, was Vanessa heute erlebt und damals erlebt hat. Obwohl ich ihr nie begegnet bin, reichen mir ihre Worte und diese zwei Bilder aus, um in etwa zu verstehen, was in ihr vorgeht.

Die vielleicht aus dem Unterbewussten entfachten Emotionen sind in eine visuelle Sprache übergegangen und lassen den Betrachter fühlen, was in manchen Momenten durch den Kopf des Erschaffers geht. Verbunden mit ihrer Geschichte und ihren Worten in den Beiträgen erhält man ein Bild von einer Seele. Einer Seele, die nur durch die Kombination der Worte und der Bilder sichtbar und nachvollziehbar wird. Zum Nachdenken regen die Bilder an und das gerade, weil Vanessas Geschichte dahinter steckt.

Vanessa ist keine berühmte Künstlerin. Sie steht nicht im Mittelpunkt der Kunstwelt und auch nicht der Massenmedien. Sie ist anonym und eine von vielen, hat aber mit ihren Worten und ihren Bilder so viel zu sagen. Viel mehr als das, was verwackelte Handy-Videos und übersättigte Medienberichte vermitteln. Bilder, insbesondere Bewegtbilder wie besagte Videos beeinflussen unsere Meinung heute mehr denn je. Die Frage ist aber, ob wir genau aus diesem Grund Dinge übersehen oder bewusst nicht wahrnehmen und ob unsere Meinung genau aufgrund dieser Bilder sich negativ entwickelt und zu Vorurteilen führt. Wir sollten Menschen wie Vanessa mehr zuhören – lesen, was sie zu sagen haben und sehen, was wir bisher übersehen haben. Vannesas Bilder erfordern ein Auseinandersetzen mit der Thematik und ihren Folgen. Es geht nicht um Schönheit, Gefallen oder Technik. Es geht um die dahinter verankerte Botschaft an die Außenwelt. Um das zu verstehen muss man sich Zeit nehmen und gerade aus diesem Grund ist Kunst, ganz gleich welcher Art, eine gute Kommunikationsform, denn sie erfordert vom Betrachter ein Minimum an Zeitaufwand der Auseinandersetzung mit dem Werk. Zeit, die wir uns heute zu wenig nehmen, sodass sich voreingenommene und damit oft falsche Meinungen und Vorstellungen entwickeln.

Menschen wie Vanessa suchen etwas Ausgleich und Aussprache, indem sie in einem Blog ihre Sicht der Dinge darstellen und erzählen, aber auch um anderen, die in eine ähnliche Situation geraten, vielleicht helfen zu können. Damit leisten sie einen weitaus wichtigeren Beitrag als so manche Medienanstalt. Vanessa stellt die Dinge dar, wie sie sind und nicht wie sie sein müssen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie ist auf ihre Art authentisch mit ihren eigenen Worten und ihren eigenen visuellen Arbeiten, für die sie sich bewusst Zeit nimmt. Auch wir sollten uns mehr Zeit nehmen, um Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu hinterfragen, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen und eine eigene Meinung zu bilden. Denn das ist es, was uns Menschen doch schlussendlich ausmacht. Die eigene Meinung.

Abstraktion – „die Entfremdung von der Realität“ oder „Leck mich doch! Ich klatsch einfach mal Farbe auf die Leinwand und dann sehen wir, was daraus wird.“

Was ist eigentlich Abstraktion oder wie definiert man sie? Muss man das überhaupt? Ist die Begrifflichkeit „Definition Abstraktion“ nicht ein Fehler in sich? Ist Abstraktion nicht eine Form der Freiheit und Losgelöstheit, so dass eine Definition gar nicht möglich sein sollte? Ansichtssache und Kunstwissenschaftler oder andere Kunstgelehrte würden sofort mahnend die Hand heben (und mir wäre es so was von sch…egal). Ein Wunder, dass Abstraktion heute nicht verboten ist. Der Brockhaus sagt mit Blick auf die Kunst: „Bezeichnung für die seit etwa 1910 entstandenen Werke von Malerei und Plastik, die nicht die gegenständliche, objektive Wirklichkeit – in welchem Stil auch immer – wiederzugeben suchen, sondern die eigene Bildwirklichkeit zum Darstellungsziel erheben und sich von der Wiedergabe der äußeren Erscheinung lösen.“ Also eine Form von Losgelöstheit und kreativer Freiheit zumindest in der Malerei. Naja! Lassen wir das so stehen. Die Künstlerin MILO MOIRÉ steckt sich mit Farbe gefüllte Eier in die Mu… und lässt sie dann durch bewusste Kontraktion auf eine Leinwand klatschen. Ergebnis: Ein auf jeden Fall abstraktes Bild. Eine eigenwillige und für manchen auch etwas fragwürdige Technik aber es kommt gut an.

Weiter im Thema: Ich war diese Woche für einen Tag auf der ELECTRI_CITY Konferenz, einer Konferenz rund um die elektronische Musik. Austragungsort: Düsseldorf, der Geburtsstadt der elektronischen Musik – für die, die es nicht wissen. Neben diversen Bands wie DAF, kommen auch Kraftwerk aus Düsseldorf. Die absoluten Pioniere der elektronischen Musik. Die Konferenz bestand aus Vorträgen, Interviews und Konzerten. Alleine das Interview mit Peter Hook, dem Bassisten der legendären und aus meiner Sicht unerreichten Band Joy Division war phänomenal für den Musikinteressierten. Im Lauf des Tages haben mein Kumpel Stephan und ich uns diverse Vorträge angetan – äh, ich meine natürlich angehört und sind am Ende mit rauchenden Rüben und vielen Fragezeichen darüber nach Hause gestolpert. Warum? Für den Laien, Nicht-Wissenschaftler oder Nicht-Fachmann waren die Thesen, Analysen und Interpretationen nur bedingt nachvollziehbar, zumal die meisten Vorträge nicht frei gesprochen, sondern abgelesen wurden. Um es kurz zu machen: Mir war das Ganze etwas zu abstrakt. Und da sind wir wieder beim Begriff. Abstrakt! Ich liebe ihn! Allerdings wurde mir durch das Lesen des Buchs ELECTRI_CITY von Rüdiger Esch zur gleichnamigen Konferenz und durch die Vorträge die von mir empfundene Abstraktheit der Musik von Kraftwerk erst richtig bewusst. Losgelöst und frei schufen die Herren aus Düsseldorf einen Sound, der die Welt verändern sollte und der noch heute nachhallt. Auch wenn ich kein Fan ihrer Musik bin, ist mir doch bewusst, was sie erschaffen haben. Neben einer musikalischen Bewegung auch den für mich wichtigen Mut zur Abstraktion.

Ein weißes Papier oder eine Leinwand, die man mit Farbe bearbeiten will, birgt immer eine Herausforderung, eine gewisse Anspannung und vielleicht sogar Angst. Schafft man das, was man sich vorstellt oder sind am Ende wieder Stunden an Arbeit und teures Acryl- oder Aquarellpapier plus Farben für die Tonne. Hier kommt die Abstraktion ins Spiel. Mein Empfinden für diesen Begriff ist eine gewissen Losgelöstheit und Freiheit, die man mit Farbe visuell zum Ausdruck bringt. Man lässt es einfach laufen und die Gedanken versinken in den flüssigen und fliesenden Farben.

anxiety disorder - acrylic on paper
anxiety disorder – acrylic on paper

Strukturen, Flächen und Formen entstehen frei und abstrakt. So erschafft man etwas, was Emotionen aus dem Unbewussten freisetzt. Was am Ende entsteht ist eine freie oder vielleicht auch einfach nur für einen Folgeprozess weiterführende Arbeit. In jedem Fall ist es aber auch ein sich Freimachen von Zwängen, Anspannungen und Unruhen. Das ist meine persönliche Interpretation von Abstraktion und zwar nicht nur in der Malerei.

Was Abstraktion ist, darf aus meiner Sicht jeder für sich entscheiden und gerade heute sind gesellschaftlich betrachtet und mit Blick auf Musik, Kunst oder auch andere Bereichen des Lebens unterschiedliche Meinungen zu einer möglichen Definition nötig, um die damit verbundene Freiheit und Losgelöstheit zu unterstreichen.

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No title – Acrylic on paper (digital)